Wo Prüf und Siegel drauf ist, ist Qualität drin, oder?

Kürzlich war ich auf einer Netzwerkveranstaltung und lauschte dem Vortrag einer Agentur. In der Selbstpräsentation stellte der Vertriebsverantwortliche stolz vor, dass die Agentur seit kurzem nach ISO 9001 zertifiziert ist. Ich nehme an, uns Zuhörern sollte das vermitteln, dass die Agentur für Qualität steht – wir uns also auf gute Leistungen verlassen können. Doch mal Hand aufs Herz: Bedeutet eine Zertifizierung gleich eine gute Leistung?

Warum Zertifizierung

Zur Klarstellung: In diesem Blog geht es nur um Zertifikate zur Normkonformität von Managementsystemen. Das sind Bestätigungen, dass die Selbstbehauptung von Organisationen, dass sie ihre Aktivitäten nach festgelegten Spielregeln durchführen, stimmt.

Oft ist es den Unternehmen heutzutage nicht mehr freigestellt, ob sie sich zertifizieren lassen wollen oder nicht. Manchmal fordern Kunden ein Zertifikat, wie das z. B. für Subunternehmer in der Automobilbranche der Regelfall ist. Und auch die öffentliche Hand verlangt immer häufiger, dass Auftragnehmer entsprechende Zertifikate vorweisen können. Schließlich ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass Endverbraucher in unserer zertifikatsgläubigen deutschen Kultur eher zu Produkten oder Dienstleistungen greifen, wenn der Hersteller ein entsprechendes Stück Papier an der Wand hängen oder eine elektronische Instanz davon auf der Firmenwebseite abrufbar hat.

Kritik an der Zertifizierung

Dreh- und Angelpunkt dieses Zertifizierungswesens ist das Vertrauen in den, der das Zertifikat ausstellt. So wie ich einem Freund vertrauen muss, wenn er mir etwas bestimmtes empfiehlt, muss ich auch glauben, was der Zertifizierer in seinem Dokument bestätigt. Aber halt, bei uns in Deutschland werden die Zertifizierer doch überprüft, oder? Stimmt, von der Deutschen Akkreditierungsstelle (DAkkS), einer GmbH, die mit diesem Auftrag vom Gesetzgeber beliehen wurde. Beliehen werden heißt, dass eine privatwirtschaftliche Organisation hoheitliche Aufgaben übernimmt. Näheres zu Beleihung gibt es bei Wikipedia.

Zertifizierung – unabhängig oder im Interesse der Zertifizierten?

Die Deutsche Akkreditierungsstelle gehört zu je einem Drittel dem Bund, den Bundesländern und dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) – das sind die Gesellschafter. Sie ist nach Angaben auf ihren Webseiten unabhängig, wird aber, und auch das steht auf den Webseiten, kostendeckend von den Kunden finanziert. Sprich: Die Zertifizierungsorganisationen bezahlen die DAkkS zu 100 %. Mir kommt da schnell der Volksmund in den Sinn: „wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Und um ganz präzise zu sein: Die Pflicht zur kostenneutralen Preis- bzw. Gebührengestaltung gilt nur für Aktivitäten der Akkreditierungsstelle, die sie innerhalb des Geltungsbereiches des Akkreditierungsstellengesetzes durchführt. Im Ausland darf sie nach meinem Verständnis gewinnorientiert agieren.

Ebenfalls sind alle festangestellten und externen Mitarbeiter der DAkkS dazu „angehalten, mögliche Interessenskonflikte unverzüglich der Geschäftsführung mitzuteilen“

[Update 11.12.2016: das Zitat stammt von der Webseite der DAkkS, Bereich Arbeitsweise der DAkkS, vom Tag der Erstveröffentlichung des Beitrags]. Ob „angehalten“ jetzt „arbeitsrechtlich bindend verpflichtet“ oder „ermutigt, bitte nicht zu vergessen, darüber nachzudenken“ bedeutet, konnte ich mit vertretbarem Aufwand nicht aus den Informationen, die die Deutsche Akkreditierungsstelle auf ihrer Webpräsenz publiziert, herausfinden.

Unabhängigkeit durch ein Aufsichtsgremium?

Schließlich soll die Unabhängigkeit auch noch dadurch gesichert werden, dass es ein Aufsichtsgremium für die Deutsche Akkreditierungsstelle gibt. Dieses besteht aus Vertretern verschiedener Bundesministerien oder davon beauftragter Behörden. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz ist allerdings weder im Akkreditierungsstellengesetz noch in der dazu erlassenen Verordnung zum aktuellen Zeitpunkt unter den Aufsichtsbehörden zu finden. Oder anders ausgedrückt: Verbraucherbelange sind von Bundesseite, zumindest nach der Besetzung der Aufsicht über die DAkkS, nicht erkennbar vertreten. Wie das von Länderseite her aussieht, konnte ich nicht ermitteln. Der BDI ist scheinbar in der Aufsicht nicht vertreten.

Dann ist da noch die Zertifikatsgrundlage selbst: Die Normen für Managementsystem sind, um weitläufig verwendbar zu sein, recht allgemein gehalten. Das hat den Vorteil, dass sie auf alle Arten von Produkten und Dienstleistungen sowie möglichst viele Organisationsformen anwendbar sind. Nachteilig ist dabei, dass die Kriterien für die Bewertung, ob eine Organisation die Anforderungen zertifikatsreif einhält, vielfach Ermessenssache des jeweiligen Auditors sind. Der Neufassung der ISO 9001 von 2015 wird von manchen Experten sogar vorgeworfen, dass die Beliebigkeit in der Formulierung der Normforderungen zugenommen hat, was nicht nur die Bewertung erschwert, sondern auch die Vergleichbarkeit der Zertifikate vermindert.

Nicht-Konformität wird unter dem Deckmantel der Empfehlung kaschiert

Und als letztes, vielleicht schwerwiegendstes Problem: Es ist in der Zertifizierungsbranche ein offenes Geheimnis, dass manch Zertifizierer geringfügige Nicht-Konformitäten, also Abweichungen von der Normforderung, als „Empfehlung“ kaschiert. Zur Erklärung: Nach den Zertifizierungsgrundsätzen bedeuten eine schwerwiegende oder mehr als neun geringfügige Abweichungen das Aus für das Zertifikat. Ein verweigertes oder entzogenes Zertifikat könnte für den Zertifizierer allerdings auch den Verlust des Kunden bedeuten, der sich vielleicht nach einem wohlwollenderen Zertifizierer umsieht. Bei Empfehlungen, also Verbesserungsvorschlägen für im Grunde konformes Vorgehen, gibt es keine Grenzen. Ist auch logisch, denn warum sollte man konformes Verhalten bestrafen? Derzeit sind jedoch Bestrebungen im Gange, diese Missbrauchsmöglichkeit dadurch trockenzulegen, dass bei Audits zum Zertifikatserhalt die Einstufung als Empfehlung wegfällt. Dann muss der Auditor und somit der Zertifizierer klarer Stellung nehmen.

Wer am Zertifizierungswahn verdient

Wer verdient also jetzt an all den Zertifikaten? In erster Linie die Zertifizierungsorganisationen. Das sind privatwirtschaftliche Unternehmen, die Geld verdienen müssen. Und je mehr Zertifikate verlangt werden (müssen), desto besser brummt deren Geschäft. Andererseits gibt es, zumindest im Bereich der Zertifikate für Managementsysteme, keine Verpflichtung für ein Unternehmen, einen bestimmten Zertifizierer zu beauftragen. Die Zertifizierer stehen also miteinander im Wettbewerb. Das hört sich gut an, eröffnet in meinen Augen jedoch die Möglichkeit eines Interessenkonfliktes mit einer unabhängigen Konformitätsbewertung.

Die Deutsche Akkreditierungsstelle GmbH (DAkkS) verdient natürlich auch daran, auch wenn diese, wie oben beschrieben, teilweise kostenneutral arbeiten muss. Zu den Kosten gehören aber auch Gehälter sowie vermutlich Aufwandsentschädigungen für die Vertreter der Aufsicht.

Und schließlich verdienen auch die zertifizierten Unternehmen selbst, die erst durch das Zertifikat entweder als akzeptable Geschäftspartner angesehen werden oder dadurch Marktvorteile erhalten.

Wann Sie Ihr Unternehmen zertifizieren lassen sollten und wann nicht

Trotz dieser durchaus kritischen Betrachtungsweise gibt es natürlich trotzdem Gründe, Ihr Unternehmen zu zertifizieren. Im Folgenden liste ich Ihnen unsere Empfehlungen auf, wann eine Zertifizierung sinnvoll erscheint und wann nicht.

Argumente pro Qualitätsmanagement-Zertifizierung:

  • Wenn Kunden, die Sie unbedingt gewinnen oder behalten wollen, dies verlangen
  • Wenn Sie bereits ein funktionierendes Managementsystem etabliert haben und jetzt noch das Tüpfelchen auf das „i“ setzen wollen
  • Wenn Sie bei Kunden den Eindruck erwecken wollen, dass sie so agieren, wie es das Zertifikat aussagt

Argumente contra Qualitätsmanagement-Zertifizierung:

  • Wenn Sie nicht gezwungen sind, ein Zertifikat zu haben
  • Wenn Sie Ihr Unternehmen bereits systematisch managen und Ihre Kunden auch so von der Qualität Ihrer Produkte und Dienstleistungen überzeugen können oder bereits konnten
  • Wenn Sie eine Monopolstellung haben
  • Wenn Sie die im Zertifikat zu bestätigenden Anforderungen nicht erfüllen und ehrlich bleiben wollen

Damit wir uns nicht missverstehen: Zertifizierung ist an sich nichts Negatives. Nüchtern betrachtet bedeutet eine Zertifizierung, dass eine dritte Person oder Organisation bestätigt, dass die Aussagen im Zertifikat stimmen. Das hilft, Zeit und Geld zu sparen, denn dann müssen Sie das nicht selbst überprüfen. Dann können Sie sich z. B. im Themenbereich Qualität darauf verlassen, dass Ihr Vertragspartner Ihre Anforderungen an das Produkt oder die Dienstleistung erfüllen kann – in jeder Hinsicht.

Um zu unserer Agentur vom Anfang zurückzukehren: Ob Konformität mit der ISO 9001 wirklich als diese ausgezeichnet wurde, weiß ich jetzt nicht mit Sicherheit. Fürs Erste gilt für mich dennoch „in dubio pro reo“ – und abwarten.

Artikelbild: Taschenrechner-Lupe: https://pixabay.com/de/bewerbung-geld-geldrechner-1756269/

[Update 11.12.2016]: Um einer Abmahnung aufgrund eines Beschlusses des Landgerichts Hamburg (Az. 310 O 402/16) den Nährboden zu entziehen, wurden alle Links auf externe Webseiten entfernt.